Erinnerungsarbeit
Für jede(n) gibt es irgendetwas Wichtiges, das verdammt lang her ist.
Wolfgang Niedecken, BAP
Die Vergangenheit und die Erinnerung haben eine unendliche Kraft.
Wilhelm von Humboldt
Das Konzept „Erinnerung“
Geschichte und Erinnerung sind Geschwister. Woran eine Gesellschaft sich erinnert (und nicht erinnert), hängt nicht nur von den historischen Ereignissen ab, sondern auch von den politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründen der am Prozess des Erinnerns Beteiligten. (Für eilige LeserInnen geht es hier zu der gelebten Erinnerungsarbeit des WK Do)
Deshalb wurde beispielsweise über viele Jahrhunderte die Erinnerungskultur von den Eliten der Gesellschaft bestimmt, die an den Schaltstellen der Macht die Form der Erinnerung festlegen konnten. Gleichzeitig verfügten die Vertreter der oberen Stände über materielle Ressourcen, die Erinnerungsstücke haltbarer machten: Steinmonumente oder Schmuck sind dauerhafter als bäuerliche Arbeiten aus Holz. Zu den Vergessenen der Erinnerungskultur gehörten auch lange Zeit und das nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern, die Frauen, insbesondere die Frauen aus dem armen Volke. Bewegungen wie „Geschichte von unten“, die seit den 1960er Jahren in vielen westlichen Ländern von den gesellschaftlichen Umbrüchen und der Jugendbewegung befördert wurden, haben den Blick auf die Akteure der Geschichte geändert und geöffnet.
Gleichzeitig führte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Verbindung der Erinnerungskultur mit den Vorstellungen von einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft auch zu den Konflikten zwischen der Jugend der 1960er Jahre und ihrer Elterngeneration: In der Bundesrepublik Deutschland erwuchs aus dieser Auseinandersetzung die Forderung der jungen Leute an die ältere Generation, sich umfassend mit den Gräueln des Nationalsozialismus und der Verstrickung der Elterngeneration in das NS-System auseinanderzusetzen.
Wie geht eine Gesellschaft mit Erinnerung um? Fiktives Szenario einer Schulumbenennung: Vom NS-Diktator zu einer der Mütter des Grundgesetzes, Elisabeth Selbert
(Zeichnung: Udo Schotten 2021)
Viele Täter hatten sich zu Mitläufern stilisiert, viele Opfer der NS-Verfolgungen waren in den ersten Jahren nach dem Krieg nicht gehört worden, weil die Nachkriegsgesellschaft zu sehr mit dem Aufbau beschäftigt war und sich nicht mit dem Leid der verfolgten Juden auseinandersetzen wollte, oder die Opfergruppe nicht im öffentlich Bewusstsein war (z.B. Sinti). Wieder andere ehemalige Opfer waren sogar weiteren Verfolgungen ausgesetzt (Kommunisten und Homosexuelle). Manch eine kleine Firma, manch ein großer Konzern hatte sich durch Enteignungen jüdischen Vermögens in der NS-Zeit über 1945 hinaus dauerhaft bereichert. Dies aufzudecken und der Leiden der verschiedenen Verfolgten zu gedenken, auch, um einen Rückfall in die Barbarei zu verhindern, ist zu einem Teil des deutschen Geschichtsverständnisses geworden. Dabei geht es nicht darum deutsche Geschichte ausschließlich durch die Perspektive des Holocausts und der NS-Zeit zu betrachten, sondern sich der Verantwortung zu stellen, wie das andere Nationen auch müssen, etwa die USA als ehemalige Sklavenhaltergesellschaft, die überdies die Ureinwohner des Kontinents fast ausrottete, oder die europäischen Kolonialmächte (zu denen auch Deutschland gehört) als Verantwortliche für viele aktuelle Krisen in den ehemaligen Kolonien.
Die deutsche Nachkriegsgeschichte ist allerdings nicht nur die Geschichte der BRD, sondern auch der DDR: Dort liefen der Neuanfang und der Erinnerungsprozess anders ab als in der BRD. Zwar gab es hier auch wie in der BRD das ‚Abtauchen‘ nationalsozialistischer Täter in die entsprechenden Positionen des neuen Systems, aber es fand keine, auch nicht wie im Westen der 1960er Jahre verspätete, gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und ihren Auswirkungen auf die Nachkriegszeit statt. Durch die Gleichsetzung des Nationalsozialismus (in der Sprache der DDR: Faschismus) mit dem Kapitalismus galt der sozialistische Staat ab seiner Gründung automatisch als antifaschistisch. Manches NS-Gedankengut hielt jedoch sich aus diesem Grunde und konnte nach dem Ende der DDR und der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern wiederaufleben.
Die deutsche Geschichte besteht nicht nur aus der dunklen Seite der Macht, sondern auch erinnernswürdigen, positiven Errungenschaften und Momenten, wie den Grundrechten oder dem "Kniefall von Warschau"
(Zeichnung: Udo Schotten 2021)
Zur deutschen Geschichte gehören also vielfältige Erinnerungskulturen, zu denen die Erinnerungen an die zwei deutschen Diktaturen seit der Wiedervereinigung genauso zählen, wie der Umgang mit der NS-Zeit in der BRD und der DDR. Auch Deutschland muss sich mit seiner kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen, sollte aber auch der Grundlegung deutscher demokratischer Ideale in der 1848 Revolution und der Weimarer Republik gedenken. Zu den Aufgaben des Geschichtsunterrichtes und der Schule als demokratischer Institution gehört es, vielfältige Zugänge zur Vergangenheit zu bieten. Dabei ist Erinnern nicht nur im Fachunterricht angesiedelt, sondern reicht darüber hinaus in das gesamte Schulleben hinein. In Zusammenhang mit dem Bildungsauftrag der Schule wird der Begriff der „Erinnerungsarbeit“ benutzt, um so einen Prozess des angeleiteten Erinnerns zu bezeichnen. Dass dabei die „Erinnerungsarbeit“ auch kreativere Wege im Sinne eines erweiterten Kulturbegriffs sucht, gehört zu den Zielen des Westfalen-Kollegs.
Erinnerungsarbeit am Westfalen-Kolleg
Seit 2011 betreibt die Geschichtsfachschaft des Westfalen-Kollegs eine intensive Erinnerungsarbeit, bisher mit einem Fokus auf der Zeit des Nationalsozialismus. Dabei fanden Zeitzeugengespräche statt mit Überlebendenverschiedener KZs (Vera Dotan, Micha Schliesser), einer Nachfahrin einer Teilnehmerin des Kindertransports (Judith Rhodes), einem durch falsche NS-Identität Überlebenden und Exilantinnen (Sally Perel, Elisabeth Rosenberg-Band, Ruth Weiß). Diese Gespräche mit Vertretern einer immer kleiner werdenden Gruppe zu führen, war die Motivation für eine Schwerpunktsetzung, die sich mit den Worten zusammenfassen lässt: „Fragt uns und hört uns zu, wir sind die letzten, die Euch erzählen können, was damals in Deutschland zwischen 1933 und 1945 passiert.“
2013 wird die Studienfahrt nach Auschwitz zum Anlass …
- nach jüdischen Spuren in unserer Nachbarschaft, der Rheinischen Str., zu fahnden,
- 2014 verlegt das Westfalen-Kolleg vier Stolpersteine (Verlinkung) für die in Auschwitz getötete Familie Neugarten: Johanna, Max und Liesel Neugarten sowie Frieda Stern hinterlassen nun wieder Spuren in Dortmund, nämlich in der Rheinischen Str.
2015 führt die Spurensuche zu …
der Verlegung zweier Stolpersteine für die nach Theresienstadt deportierten Mitglieder der Familie Jordan in der Rheinischen Str. 56 (gegenüber der Schule).
Was haben wir dadurch erlebt und gelernt? Was ist neu?
- dass sich noch einige der verschwundenen Spuren unserer jüdischen Nachbarn aufspüren lassen, die in der Rheinischen Str. Geschäfte in der Textilbranche führten, hier ein Foto, da eine Geschichte von Nachfahren ehemaliger Schulkameradinnen, dort oral history aus dem Viertel und Tonbandinterviews aus Israel,
- dass es zu intensiven Begegnungen mit überlebenden Verwandten kommt und Geschichte hier weit mehr als ein Schulfach ist, vielmehr öffnen sich auch für diese Familien verschüttete Wege,
- dass am 9. November nun regelmäßige Gedenkveranstaltungen an unserer Schule stattfinden.
2017-2018 drehen wir mit Studierenden und Filmschaffenden den Kurzspielfilm „Races“,
- in dem es u.a. um das Schicksal des fiktiven jüdischen Läufers David Rosenstock geht, der in der NS-Zeit antisemitischer Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt ist,
- Vorbild für diese Figur ist der Dortmunder Sprinter Eric Schildkraut (rechts mit dem Dortmund-Trikot),
- ein anderer Schauplatz des Films ist die DDR, in der es ebenfalls Erscheinungen des Rassismus gibt und die Sport in Dienst der Staatspropaganda stellt.
… aber Erinnerungsarbeit kann und sollte nie statisch sein, deswegen:
- weitere Spurensuche nach jüdischen Sportlern Dortmunds in der NS-Zeit,
im November 2018 Verlegung zweier weiterer Stolpersteine für die Familie Jordan und Themenschwerpunkt „Exil“ bei der Gedenkveranstaltung, - Auseinandersetzung mit der Geschichte der Familie Goldschmidt, weiterer symbolischer Nachbarn unserer Schule, und anschließende Stolpersteinverlegung, Datum noch offen,
- Auseinandersetzung mit anderen Phasen deutscher Geschichte, z.B. mit der DDR, der BRD, dem Kolonialismus, der Frauengeschichte … Und hier könnte auch Ihr Themenwunsch stehen, denn die Geschichts-AG freut sich immer über Verstärkung!
- Zusammenarbeit mit der schulinternen Arbeitsgemeinschaft SoR-SmC in vielfältigen Projekten,
- Suche nach neuen Wegen der Erinnerungskultur, die andere Zugänge zur Geschichte erlauben
- der „Erinnerungskoffer“, der Zeugnisse der schulischen Erinnerungsarbeit zum Anfassen und Anschauen präsentiert
- das graphic novel-Projekt über „Ausgrenzung einst und jetzt“, in Zusammenarbeit mit dem Künstler Udo Schotten,
- in Zusammenarbeit mit der Fachschaft Informatik Aufbau eines Wikis zu den Familien, deren Stolpersteinpate das Westfalen-Kolleg ist, um den Verfolgten ein Gesicht zu geben.
Wer kann mitmachen bei diesen Projekten?
Studierende aller Semesterstufen sowie Ehemalige sind herzlich eingeladen sich aktiv an einzelnen oder gerne mehreren Projekten der Erinnerungsarbeit zu beteiligen; auch ist die Teilnahme nicht an die Belegung des Faches Geschichte gebunden. Welches Engagement Sie wählen, bleibt Ihnen überlassen: Sie können sich in die Gedenkveranstaltung am 9. November einbringen oder Mitglied in der Geschichts-AG werden und dort die Schwerpunktsetzung der Themen mitgestalten.
Die Mitarbeit in der Gruppe „Erinnerungsarbeit“ wird Ihnen – je nach Wunsch – in verschiedenen Formen bestätigt, z.B. als Vermerk auf dem Abschlusszeugnis oder als separate Teilnahmebestätigung. Ebenso kann man die bescheinigte Erinnerungsarbeit bzw. die Teilnahme an der Geschichts-AG auch bei Bewerbungen um ein Stipendium für das Hochschulstudium als ehrenamtliche Tätigkeit angeben. Abgesehen von diesem praktischen Wert schärft die Auseinandersetzung mit der Geschichte den Blick: „Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern.“ (André Malraux)
Wer mehr erfahren möchte, melde sich bitte unter